Lum, 2. Tag des Engels 1508 n. B. - BERICHT II

Nach dem Mittagessen sowie einer letzten Stärkung in den Gasthäusern von Königshafen ruderten Lothar vom Pappelwald, Lucian Vrinn und Mirabella Hügelkappe zur Schwarzen Insel.

Das Eiland lag immerhin nicht viel mehr als eine Stunde von der Stadt entfernt. Es war ein schöner Sommertag, mit wenigen Wolken an einem blauen Himmel. Als sich das Dreiergespann jedoch der Insel näherte, schien sowohl das Licht wie auch die Farbe aus der Wirklichkeit zu weichen.

Nur noch ein einzelner Turm stand windschief am nordwestlichen Rand des Eilands und ließ eine ehemals beachtliche Wehranlage vermuten. Ansonsten war die gesamte Insel mit gelb-grünem Gras und den schwarzen Steinen der Ruine bedeckt, die wild verteilt herumlagen.

In gehörigem Abstand ruderte Lothar das Boot an das südliche Ende des Eilands, denn dort fiel es zu einem kleinen, steingesprenkelten Strand ab. Der Waldläufer legte sich ordentlich in die Riemen und so musste Lucian nur noch in flaches Wasser springen, um ihr Gefährt an Land zu ziehen.

Zwischen den allgegenwärtigen, dunklen Steinblöcken war Segeltuch zu erkennen. Das Tuch bedeckte eine längliche Form. Die beiden Männer näherten sich dem unerwarteten Fundstück.

Das Segeltuch war mit Asche oder verkohltem Holz grau-schwarz eingefärbt worden. Lucian zupfte die Abdeckung zur Seite. Es kam ein umgedrehtes Ruderboot zum Vorschein. Lothar hob es an und deckte zwei Ruder und eine Rolle Hanfseil auf.

Anschließend suchten die flinken Finger des Diebs das Boot ab. Lucian spürte einen doppelten Boden auf. Er öffnete das Geheimfach und fand violette Glassplitter darin. Sonst nichts.

Bevor sie ihr eigenes Ruderboot zwischen den schwarzen Steinen verbargen, stellten sie das gefundene Versteck wieder her.

Danach suchte der Waldläufer die Umgebung nach Spuren ab. Er wollte wissen wer hier ein Boot versteckt hatte, wieviele es waren und wohin sie gegangen waren. Lothar entdeckte jedoch keine einzelnen Fußspuren, sondern lediglich einen frequentierten Weg durch das hohe Gras und den Schutt.

Es war alles andere als ein ausgetretener Pfad, aber er führte zum einzigen Turm auf der Insel.

Um dorthin zu gelangen, mussten die drei Abenteuernden eine Gruppe niedriger Dornenbüsche umgehen, die in der Mitte der Insel wucherte.

Vor der windschiefen Turmruine angekommen, entdeckten sie schließlich eine große Senke in der nördlichen Hälfte des Eilands.

Eine geschwungene, von gelb-grünem Gras überwucherte Treppe führte im Südwesten hinab auf den Boden der Grube. Gegenüber von jenen Stufen war ein Haufen Schutt aus den allgegenwärtigen, schwarzen Steinen von Nordwesten in die Senke gerutscht.

Auf dem Grund der Grube war ein kleiner Bereich frei von Gras und Geröll, der dunkle Steinplatten am Boden zeigte. Daneben führte ein verwucherter Rundbogen im Osten der Senke in die Dunkelheit unter der Insel.

Die beiden Männer begutachteten zunächst das alte Bauwerk am nordwestlichen Rand des Eilands. Es neigte sich bedrohlich nach Nordosten und bestand aus dunklen, eigenartig verformten Steinblöcken. Nordöstlich des geschmolzenen Turmes wurde die Erde von drei Rissen durchzogen, die wie Kratzer riesiger Krallen wirkten.

Eine steinerne Wendeltreppe im Turminneren führte in die Tiefe; die höher gelegenen Ebenen gab es nicht mehr.

Lothar besah sich die Steine genauer. Die Einzelteile des Turmgemäuers waren offensichtlich von außerordentlicher Hitze miteinander verschmolzen worden. Der Waldläufer vermutete, dass ein Drache oder ein Scheusal die Wehranlage verwüstet hatte. X

Das Dreiergespann überlegte der Treppe im Turm nach unten zu folgen, entschied sich dann allerdings für die Senke. Sie nahmen die überwucherten Stufen und untersuchten kurz darauf die frei liegenden Steinplatten.

In die Platten war die Darstellung einer Bestie geschnitzt worden. Es war allerdings nur die Schnauze mit den spitzen Fängen des Scheusals zu sehen. Die beiden Männer wollten sich nicht die Mühe machen das gesamte Kunstwerk freizulegen.

Lothar zog eine Fackel aus seinem Rucksack, entzündete sie und ging unter dem Torbogen hindurch. Lucian schlich hinter ihm in die pechschwarze Finsternis der Ruine, in die sich nun der orange Fackelschein des Waldläufers fraß.

Mirabella beendete hastig ihren Bericht und folgte dem Dieb.

— Wendelyn, Stadtschreiber und hoher Herold von Peredur

X Der Mann vom Bündnis der vier Ringe ist nicht dumm! Passenderweise war es tatsächlich ein feuerspeiender Drache, der Burg Drachenklaue vor etwa 500 Jahren zerstört hat. Die Gelehrten streiten sich nur noch darüber, ob er ein rotes oder ein goldenes Schuppenkleid trug. Doch welchen Grund soll ein Königsrache gehabt haben, die Burg eines Drachenkönigs - oder vielmehr seines Kronprinzen - zu vernichten?