Tar, 9. Tag des Engels 1508 n. B.

Noch am Nachmittag des 8.8.1508, wollten die fünf Männer mit der Elfe um unsere Agentin Mirabella Hügelkappe nach Westen aufbrechen. Als sie sich an den Abstieg von der Klippe des Sonnenturms machten, erreichte eine Gruppe von Holzknechten die Grüne Halle. Lothar vom Pappelwald hörte sich noch an, weshalb sie Vorsteherin Theodora aufsuchten. Die bärtigen Kerle klagten über die zunehmenden Angriffe des Eulenbären und so beschloss der Waldläufer kurzerhand sich mit seinen Mietlingen dem Monster anzunehmen.

Cato bezahlte die Turmwachen mit einer Goldmünze dafür auch auf die Boote achtzugeben, dann zog er mit Mirabella, Nerea, Pius und Joran sowie Magda, Helga und Torun nach Westen, wo der Shalunha in den Ertrunkenen Wald übergeht.

Die Sommersonne hatte dem grünen Gras der Ebene bereits eine goldgelbe Färbung verpasst, doch an diesem Tag des Engels verhangen dunkle, Unheil verkündende Wolken den Himmel. Allerdings hielt das Wetter und so hob sich am Abend der uralte Wald der Elfen wie ein schwarzer, undurchdringlicher Schatten im Westen von der hellen Ebene und sogar vom düsteren Himmelszelt darüber ab.

Die drei Männer und fünf Frauen schlugen ihr Nachtlager jenseits der Bäume auf, nahe einem großen, moosbewachsenen Felsbrocken. Sie vertieften eine kleine Senke, um darin ein geschütztes Lagerfeuer zu entzünden. Nach dem schlichten Abendessen erfolgte die Wacheinteilung. Gegen Mitternacht wurden sie von Torun geweckt. Magda stand bereits neben dem Feuer und hatte einen Pfeil aufgelegt. Die Frauen hatten monströse Stimmen in der Dunkelheit vernommen. Als sie einen Hinterhalt legen wollten, wurden sie schließlich von einem halben Dutzend Orks überrascht.

Ihr grünhäutiger Anführer besaß die größten Hauer der Gruppe, sprach aber die Handelssprache der Drachenkönigreiche vermutlich nicht nur darum besonders schlecht. Den Mächten des Lichts sei Dank beherrschte Nerea ein sehr viel besseres Orkisch! Unsere Agentin konnte den finsteren Tonfall jener Sprache nur schwer deuten. Hin und wieder hoben manche der Orks ihre Streitäxte, als wären sie mit Aussagen der Elfe nicht einverstanden. Am Ende der Unterhaltung erklärte Nerea, dass die Grünhäute für Baron Forkys arbeiteten. Sie waren Söldner und gaben den Reisegefährten bis zum Morgengrauen, um in Frieden weiterzuziehen.

Am nächsten Tag (9.8.1508) schlugen sich die Kirschensammler:innen deshalb rasch in den Shalunha. Die Bäume seiner Randgebiete waren noch nicht so hoch und der uralte Wald noch verhältnismäßig licht. So fanden sie bereits gegen Mittag einen großen Strauch voller Schattenkirschen.

Das dunkle Gewächs war in etwa drei Schritt hoch. Seine Blätter erweckten den bedrohlichen Eindruck von lilafarbenen Klauen, da sie zu spitzen Krallen ausfransen und entsprechend gewölbt waren. In jenem verstörenden Blattwerk hingen sie, die begehrten pechschwarzen Kirschen, die im Lichteinfall bläulich schimmerten.

Unter dem Strauch der Schattenkirschen kauerte ein dunkelhaariger Mann auf dem Boden. Er hielt etwas mit beiden Händen; etwas das einen weißbläulichen Lichtschein in sein blasses Gesicht warf.

Von dem verwahrlosten Mann ging der süßliche Gestank toten Fleisches aus. Schwarze Fliegen umschwirrten ihn, doch er schien sie nicht zu bemerken oder sie störten ihn schlichtweg nicht.

Nerea begann mit flinken Fingern Kirschen zu pflücken, während Pius auf den Fremden zuging.

Mirabella beschrieb den Kleriker in einer Tiefe die einem bewundernden Abschied gleichkam:

Er trug ein glänzendes Kettenhemd sowie einen polierten Helm. Seine blauen Augen wirkten fest entschlossen dem Unbekannten seine Geheimnisse zu entreißen, doch sein Zweihandschwert mit der gewellten Klinge, das er liebevoll „Rondra“ nannte, verblieb in seinem Wehrgehänge auf dem Rücken.

Stattdessen hielt Pius dem Untoten das heilige Symbol Lumaenors entgegen und versuchte ihn durch die inbrünstige Anrufung seines Gottes zu vertreiben. Der Zombie schenkte jedoch auch dem Kleriker keinerlei Beachtung. Er starrte schlichtweg weiter in den Silberspiegel, bis der Glaubensmann seinen Zweihänder zog und ihm das verfluchte Ding damit aus den gräulichen Händen riss.

Plötzlich sprang der Untote auf und schlug dem jungen Glaubensmann seine Arme wie Dreschflegel gegen Kopf. Pius taumelte. Nerea tastete blindlings nach dem Spiegel und warf ihn dem Zombie zu. Das funkelnde Ding prallte jedoch ungefangen an dem stumpfen Angreifer ab.

Es war an Cato den Spiegel aufzuheben, ohne ihn dabei zu betrachten. Sogleich fesselte er damit die Aufmerksamkeit des Untoten. Nun hatten Nerea und Helga leichtes Spiel ihre Speere in die Schöpfung der Schwarzen Göttin zu treiben. Vernichtet fiel der Zombie auf den Waldboden.

Schließlich warf Cato sein schmutziges Taschentuch über den Spiegel und steckte ihn ein. Unterdessen besahen sich die anderen den leblosen Körper. Er steckte in einem grauen Waffenrock mit dem schwarz-blauen Schild und Fisch von Haus Forkys auf der Brust.

Um seinen Hals hing ein wertvolles Silbergeschmeide, in dessen Anhänger ein dunkelbrauner Edelstein eingelassen war. Cato gab vor, sich mit solchen Dingen auszukennen und ließ das Geschmeide vorsichtshalber in seinem Beutel verschwinden.

Der Schmuck und das Wappen sprachen dafür, dass es sich bei dem Toten mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein höher gestelltes Mitglied von Haus Forkys handelte. Davon ungeachtet, dass er bereits untot war, haftete nun sein Blut an den Waffen der Kirschensammler:innen, die sich obendrein seiner Wertgegenstände bemächtigt hatten. Möge Solani selbst ihre schützende Hand über sie halten, sollten sie den Orks des Barons erneut begegnen! [^*]

Unter der Führung von Nerea drang die Gruppe tiefer in den Shalunha vor.

Am frühen Abend, im feurigen Licht einer sterbenden Sonne, erreichten die Kirschensammler:innen ein Hügelgrab im Wald. Die Bäume um die Erhebung waren allesamt tot; ihre blattlosen Äste hielten den grünen Sommerwald auf Abstand wie ein stinkender Burggraben feindliche Heerscharen.

Aus dem Eingang des Grabmals wucherten Schattenkirschen. Cato, Joran, Pius und Nerea beschlossen hineinzugehen. Mirabella hielt sich mit den Mietlingen Magda, Helga und Torun zunächst zurück.

— Wendelin, Stadtschreiber und hoher Herold von Peredur

[^*] Vor wenigen Jahren hatte der Baron den Tod seines Sohnes Tavik verkraften müssen. Von einem weiteren vermissten Verwandten ist mir nichts bekannt, aber ich entsende noch heute einen Agenten an den Hof von Alrik Forkys. Es mag nicht zum lieblichen Namen Sonnenwinkel passen, doch “Burg Röhricht” steckt voller Geheimnisse.